Von der Ohnmacht in die Bewusstheit - Gefühlsreaktionen verstehen
Tilda flitzt mit dem Roller über den Spielplatz, stolpert plötzlich über einen Stein und fällt hin. Während sie ihre Wunde betrachtet, kommt ein anderes Kind, schnappt sich den Roller und düst davon. Tilda beginnt verzweifelt zu weinen und schreit laut über den Spielplatz.
Nicht selten überschätzen wir unsere uns anvertrauten Kinder insbesondere dann, wenn es um ihre Gefühle geht. Sätze, wie: „Ist doch nicht so schlimm!“, oder „Brauchst doch nicht so wütend sein!“ lassen Kinder spüren, dass ihre Gefühle, so wie sie sind und wie sie diese zum Ausdruck bringen, unerwünscht sind. Wir sagen ihn damit, dass der Schmerz aus erwachsener Sicht gar nicht so stark gewesen sein kann oder die Frustration unverhältnismäßig intensiv ausgelebt wird. Diese Gefühlsreaktionen vom Kind und begleitenden Erwachsenen erfolgen meist in Windeseile, als würden sie sich verselbstständigen. In einer hitzigen, erregten Situation scheint es, als würden wir passiv zusehen, statt sie aktiv zu steuern. Genau an dieser Stelle möchte ich ansetzen und mit euch ansehen, was hier vor sich geht, damit wir weder im Beobachten noch im Begleiten überfordert und verunsichert zurückbleiben. Denn so ganz von allein passiert dies alles gar nicht, nur leider oft blitzschnell.
Gefühlsreaktionen verstehen
Emotionen sind unmittelbare Reaktionen auf Situationen und werden von jedem Menschen individuell wahrgenommen – ob angenehm oder unangenehm. Wie diese Emotionen erlebt und ausgedrückt werden, hängt von Faktoren wie Persönlichkeit, Temperament, bisherigen Erfahrungen, kognitiver Entwicklung und kulturellem Hintergrund ab.
Emotionen entstehen durch unsere Gedanken und Erinnerungen über etwas oder durch die Erfüllung oder Nichterfüllung von Bedürfnissen (vgl. Ross, 2023). Somit wird ein innerer oder äußerer Reiz bewertet, und diese Bewertung löst ein Gefühl aus, das von körperlichen Reaktionen und einer daraus resultierenden Handlung begleitet wird.
Im Beispiel von Tilda lassen sich diese Schritte gut erkennen:
Reiz(e): Tilda stolpert und ihr Roller wird genommen
Bewertung der Situation: Das Bedürfnis nach Sicherheit, Gerechtigkeit, Schutz könnte in Unerfüllung geraten und zudem schaltet sich ihre Erinnerung ein, die vielleicht sagt: „Immer passiert mir das und meinen Roller bekomme ich nun ewig nicht zurück.“ Erinnerungen, Gedanken und auftauchende Bedürfnisse beeinflussen die Bewertung der Situation: Tilda empfindet diese als unangenehm (Schmerz des Falls) und ungerecht (Wegnehmen des Rollers).
Es lohnt sich, dieses komplexe Vorgehen in Zeitlupe zu betrachten. Obwohl es durch die Geschwindigkeit, mit der es geschieht, so wirken kann, als seien einige Reaktionen übermäßig intensiv oder sogar grundlos, wird bei einer stark verlangsamten Betrachtung deutlich, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen.
Emotion: Tilda empfindet vermutliche einen Schreck und Schmerz, ist frustriert und als sie ihren Roller wegfahren sieht, verstärken sich ihre Gefühle von Ungerechtigkeit und Sorge, ob sie diesen wieder bekommt.
Entscheidend ist nun, wie das Kind in diesem Moment begleitet wird, denn die Reaktionen von außen verstärken oder regulieren den Reiz zusätzlich.
Handlung (körperliche Reaktion): Ihr Schreien zeigt, dass sie mit der Situation überfordert ist und ihre Emotionen noch nicht selbst regulieren kann.
Vor Überforderung schützen
Insbesondere wenn es um die Impulskontrolle geht, überschätzen wir Kindern leicht und vergessen dabei, dass Kinder zum einen mit sehr unterschiedlichen Temperamenten auf die Welt kommen und zum anderen – obwohl sie höchst kompetente Wesen sind – ihr Wissen über Emotionen schrittweise entwickeln. Auch die Fähigkeit, Emotionen und die damit verbundene Erregung zu regulieren, erlernen sie erst im Laufe der Zeit (vgl. Weltzien et al., 2016, S. 15 ff.).
Kinder brauchen genau in diesen Momenten Erwachsene, die sich auf sie einstellen und sie durch ihre Gefühlsfluten begleiten. Wir alle kennen diese Situationen, in denen es uns selbst schwerfällt, in denen wir handeln und uns ähnlich fühlen wie Tilda. Wir tragen alle unsere eigene Geschichte mit uns. Ideal wäre, wenn wir liebevoll aus solchen Gefühlsfluten gerettet wurden. Doch oft haben wir auch erlebt, dass wir als kleine Tilda in unserem Schmerz negiert oder belächelt wurden. Unsere eigene Feinfühligkeit kann ebenfalls durch Schlafmangel, Krankheit, Stress oder Zeitdruck erheblich beeinträchtigt werden (vgl. Boll & Remsperger-Kehm, 2021, S. 15; Mikolajczak et al., 2019).
Auch wir Erwachsenen können unser eigenes Emotionswissen ein Leben lang erweitern und sowohl Empathie als auch Feinfühligkeit üben. Denn um ein Kind achtsam begleiten zu können, benötigen wir unsere Selbstanbindung, in der wir das Kind selbstreguliert unterstützen. Zahlreiche angenehme Erfahrungen des Kindes in emotional herausfordernden Situationen durch Co-Regulation begleitet zu werden, kann es nach und nach zur Selbstregulation finden.
Fühlst du dich manchmal als Erwachsene selbst wie Tilda, stell dir die Reaktionskette vor. Du bist deinen Gefühlen ebenso wenig ausgeliefert wie das Mädchen, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Auch dein Gefühl wird durch deine Wahrnehmung ausgelöst und im Kontext von Bedürfnissen und Erinnerungen bewertet. Unser Gehirn bewertet Reize blitzschnell als positiv oder negativ. Bei einer negativen Bewertung wird das Stresssystem aktiviert. Besonders im Umgang mit Gefühlen ist es entscheidend, zuerst unseren eigenen Alarm zu deaktivieren, um anschließend das Kind ruhig und wertschätzend begleiten zu können (vgl. Shanker 2026, S. 213). Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob wir davon ausgehen, dass ein Kind mit seinen Gefühlen übertreibt und diese beispielsweise nutzt, um zu manipulieren oder zu provozieren, oder ob wir durch entwicklungspsychologisches Wissen eine innere Haltung entwickeln, die davon ausgeht, dass das Kind aus gutem Grund handelt und unsere Unterstützung bei der Gefühlsregulation und -übersetzung braucht, bis es diese Fähigkeiten irgendwann selbstständig entwickeln kann. Es kann einen entscheidenden Unterschied machen, die eigenen Gedanken, die in uns auftauchen, bewusst wahrzunehmen und auf ihre Stimmigkeit zu überprüfen.
So kann der Satz: „Ein Kind kämpft für sich und nicht gegen dich“ oder „Jedes Kind zeigt immer sein bestmögliches Verhalten! Für jede Handlung gibt es einen Grund.“ (Hohmann 2021, Affirmationen) uns dabei unterstützen entspannt zu bleiben oder zur Entspannung zurückzukehren.
Affirmationskarten zum Buch:
“Gemeinsam durch die Wut”
Wachstum braucht Fehlerfreundlichkeit
Denn auch für uns Erwachsene ist es eine lebenslange Übung, unsere Reaktionskette wie eine kleine Fahrbahn im Blick zu behalten und immer wieder neu zu überprüfen, wo – ähnlich wie bei Tilda – kleine Steine uns zum Stolpern bringen. Wir dürfen Fehler machen, wir dürfen auch mal zu schnell und unreflektiert handeln. Es ist jedoch hilfreich, uns regelmäßig bewusstzumachen, dass wir es sind, die die uns anvertrauten Kinder in der Entwicklung ihrer Emotionen begleiten und ihnen das Vorbild sind, das wir selbst für eine achtsame Begleitung benötigen. Denn unser Gefühl beeinflusst, ob wir in Erregung handeln oder auf dem Weg vom Reiz zur Reaktion unsere Freiheit erkennen und diesen Raum entsprechend nutzen. Wir sind unseren Gefühlen nicht ausgeliefert, und wir können entsprechend der emotionalen Granularität (vgl. Barrett 2023) unsere Fähigkeiten verändern – für ein achtsames und fehlerfreundliches Miteinander, in dem wir jeden Tag neue Lerngeschenke erkennen und uns für unsere Gelingensmomente feiern und unseren Stolperern mit Selbstempathie begegnen.
Vom Stolpern zum Wachsen – ein neuer Blick auf Gefühle
Tildas Geschichte zeigt, wie eng Emotionen mit unseren Erfahrungen und Bedürfnissen verknüpft sind. Ihr Schreien wirkt vielleicht intensiv, doch es ist eine verständliche Reaktion auf das Erlebte. Kinder brauchen in solchen Momenten keine Bewertung, sondern Begleitung – ein Gegenüber, das ihnen vermittelt: „Ich sehe dich. Deine Gefühle sind verständlich.“
Auch wir Erwachsene stolpern – über Erwartungen, alte Muster oder unvorhersehbare Situationen. Doch zwischen Reiz und Reaktion liegt immer ein Moment der Wahl: Bleibe ich in meiner ersten Impulsreaktion oder entscheide ich mich bewusst für einen anderen Umgang?
Kinder lernen emotionale Regulation nicht durch Belehrung, sondern durch gelebte Erfahrung. Wenn wir sie in schwierigen Momenten feinfühlig begleiten, zeigen wir ihnen, dass Emotionen keine Bedrohung sind, sondern Wegweiser. Und genau darin liegt die Chance – nicht nur für sie, sondern auch für uns.
Letztlich sind es nicht die Stürze, die uns prägen – sondern die Art, wie wir wieder aufstehen.
Und genau hier können wir für Kinder ein Vorbild sein.
Vertiefe dein Wissen
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Literatur:
Barrett, L. F. (2023b). Wie Gefühle entstehen: Eine neue Sicht auf unsere Emotionen (E. Liebl, Übers.; Deutsche Erstausgabe). Rowohlt Polaris.
Boll, A., & Remsperger-Kehm, R. (2021). Verletzendes Verhalten in Kitas: Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive der Fachkräfte. Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.3224/84742556
Hohmann, K. (2023). Affirmationen. Gemeinsam und gelassen durch die Wut. edition claus.
Mikolajczak, M., Gross, J. J., & Roskam, I. (2019). Parental Burnout: What Is It, and Why Does It Matter? Clinical Psychological Science, 7(6), 1319–1329. https://doi.org/10.1177/2167702619858430
Ross, J. (2023). Emotionsentwicklung: Von Vorläuferemotionen zu komplexen Emotionen. frühe Kindheit. Die ersten sechs Jahre (02/23).
Shanker, S. (2016): Das überreizte Kind. Wie Eltern ihr Kind besser verstehen und zu innerer Balance führen. München
Weltzien, D., Fröhlich-Gildhoff, K., Rönnau-Böse, M., & Wünsche, M. (2016). Gefühl und Mitgefühl von Kindern begleiten und fördern: Eine Handreichung zur Umsetzung des Orientierungsplans für Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg. Verlag.